Kommentar zum AWMF-Leitlinien-Entwurf, Kapitel 8

Die AWMF entwickelt gerade eine neue „S3-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans*-Gesundheit: Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung“. Jetzt gibt es die Möglichkeit, den aktuellen Entwurf öffentlich zu kommentieren. Damit mein Kommentar nicht nur in die Tiefen des Leitlinienentwicklungsprozesses gehen, veröffentliche ich sie auch noch hier. Die Hauptüberschriften dieses Artikels entsprechen dabei den Hauptüberschriften der Leitlinie.

Unter der Kommentier-Website ist die Leitlinie nicht mehr einzusehen, hier gibt es eine Version.

Da die Leitlinie lang ist, teile ich meine Kommentare in mehrere Posts auf. Dies ist der achte und letzte Teil, der siebte ist hier, der sechste hier, der fünfte hier, der vierte hier, der dritte hier, der zweite hier und der erste ist hier.

8. Von der Transition zur Trans*-Gesundheit

8.1. Transition und Re-Transition

Mehrere Studien äußern sich zu den Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit, nach geschlechtsmodifizierenden somatischen Behandlungen zu re-transitionieren, erhöhen. Hierzu gehören:

  • die Existenz schwerer begleitender psychischer Störungen (Pfäfflin 1992),
  • einer der Transition vorausgegangenen Ehebeziehung bei trans* Frauen (d. h. noch in der männlichen Geschlechtsrolle verheiratet mit einer nicht trans* Frauen; Landen et al. 1998; Pfäfflin 1992),
  • schlechte operative Resultate (Pfäfflin 1992),
  • einem Transitionsbeginn im mittleren Erwachsenenalter (engl. late-onset; Kuiper et al. 1998; Pfäfflin 1992),
  • einem Mangel an korrekter Diagnostik (Kuiper et al. 1998),
  • fehlende Alltagserfahrungen (Pfäfflin 1992),
  • ein fehlender Reflexionsraum zur Äußerung von Ambivalenzen (Kuiper et al. 1998),
  • ungenügende soziale Stabilität (Pfäfflin 1992),
  • ungenügende familiäre Unterstützung (Landen et al. 1998) und
  • Sexkontakte von trans* Frauen mit nicht trans* Männern (Pfäfflin 1992).

Hier ist zu beobachten, dass die meisten Studien recht alt sind. Nach meiner Beobachtung der (seltenen) Berichte über De-Transitionen, war praktisch immer eine zu starke Diskriminierung post-Transition die Ursache. Dies passt zu den hier genannten Faktoren „ungenügende soziale Stabilität“ und „ungenügende familiäre Unterstützung (Landen et al. 1998)“.

Daraus lässt sich ableiten, dass sich die bereits niedrige Wahrscheinlichkeit einer Re-Transition weiter reduzieren lässt, wenn trans* Personen im Rahmen ihrer Transition von Fachkräften (Psychotherapeut_innen, Endokrinolog_innen, Chirurg_innen, etc.) behandelt werden, die über genügend Expertise in der Transitionsbegleitung und -behandlung verfügen.

Hierbei sollte das (anerkanntermaßen geringe) Risiko von Re-Transition sorgfältig gegen den Leidensdruck einer verzögerten Transition bei langwieriger Indikationsstellung etc. abgewogen werden.

 8.2. Sexualität und Intimität

Auch wenn es sich hierbei nicht um kontrollierte Studien handelt sondern um qualitative Arbeiten, sind sie dennoch wichtig, da sie sich mit Problemen in Partnerschaften von v. a. trans* Frauen mit einer Frau beschäftigten, die entweder über die Transition hinweg oder nach einer Transition bestehen bleiben. Die Mitteilung der Transition führte bei den Partnerinnen von 17 trans* Frauen zu Verunsicherung ihrer eigenen Identität und sexuellen Orientierung, sowie Ängsten bezogen auf die Zukunft der Beziehung. Als hilfreich wurden einerseits Sozialkontakte angegeben, aber auch soziale Netzwerke.

Siehe hierzu auch mein Post zu Ehefrauen von Transfrauen.

Diese Studien sind v. a. von Bedeutung, da nach dem sog. Transsexuellengesetz (TSG) bis 2011 in Deutschland die Scheidung der Ehepartner_innen eine Voraussetzung für die Personenstandsänderung war.

Die Verfassungsgerichtsentscheidung zur Ehe war 2008, 2011 war die Entscheidung zur Notwendigkeit einer genitalangleichenden Operation.

Lawrence et al. (2005) verglichen 11 trans* Frauen nach einer feminisierenden Genitaloperation mittels vaginaler Photoplethysmographie mit 72 nicht trans* Frauen in ihrer Erregbarkeit durch sexuelle Stimuli und fanden, dass die trans* Frauen eine geringere Reaktion zeigten, die Reaktion aber ihrer sexuellen Orientierung entsprachen.

Hier stellt sich die Frage, ob die vaginale Photoplethysmographie bei Transfrauen aussagekräftig ist, da die Durchblutung der Vagina und ihre Veränderung bei Erregung auch von der Operationsmethode abhängt.

Zu den Empfehlungen

Es soll darauf hingewiesen werden, dass die Testosterongabe die Libido eher steigert und eine Testosteronsuppression mit Östrogengabe die Libido eher mindert.

Die Hormontherapie und die damit verbundene Kongruenzerfahrung kann die Libidoverminderung bei Transfrauen häufig ausgleichen. Es kann durchaus passieren, dass im Rahmen der Hormontherapie die eigene Sexualität erst entdeckt wird („zweite Pubertät“).

8.3. Familie

In diesem Zusammenhang wären noch Sorgerechtsprobleme nach der Trennung der Eltern (wegen der Transition oder aus anderen Gründen) wichtig zu besprechen. Es passiert immer wieder, dass der nicht-transitionierende Elternteil dem transitionierenden Elternteil wegen der Transition das Sorgerecht entziehen lassen will.

8.4. Arbeit

Coming-outs stattfinden, indem trans* Personen beispielsweise viel Zeit damit aufbringen müssen, Informationen zu Ursachen, Dynamik und Folgen der Transition für sich selbst (aber auch für ihr Umfeld) zusammenzutragen (Beagan et al. 2012).

Wenn außerhalb der Arbeit das Identitätsgeschlecht schon gelebt wird, entsteht zusätzlicher Ressourcenverbrauch für die Geheimhaltung bzw. die Aufrechterhaltung des Doppellebens.

Bei diesem Entscheidungsprozess sind sowohl die psychologische und soziale Situation der Behandlungssuchenden (soziale Kompetenz, Selbstbewusstsein, soziale Stellung im Betrieb, finanzielle Abhängigkeit, etc.) als auch das Fortschreiten der Transition infolge möglicher somatischer Behandlungen zu berücksichtigen.

Weitere Punkte wären die Absicherung, sollte es zu Problemen nach dem Outing kommen. Dazu können der Abschluss einer Rechtsschutzversicherung gehören, Aufbau von Kontakten zu Betriebsrat und/oder Diversitybeauftragten o.ä. oder allgemein die Information über die Möglichkeiten, sich gegen Mobbing o.ä. zu wehren (Recherche der rechtlichen Situation etc.).

Dieses ist vor der Einleitung geschlechtsmodifizierender somatischer Behandlungen in vielen Fällen sinnvoll und erstrebenswert. Gelegentlich kann es jedoch erst später im Zuge der Transition (z. B. beim Auftreten von Zeichen der körperlichen Veränderungen) stattfinden.

Am sichersten ist hier ein Outing nach Abschluss der körperlichen Angleichungen. Dann ist eine bestmögliche Geschlechtswahrnehmung erreicht und damit das Diskriminierungsrisiko minimal. Dies kann ggf. noch mit einem Abteilungswechsel o.ä. verbunden werden, damit die Kolleg_innen nicht das Vorher-Bild im Kopf haben.

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