Kommentar zum AWMF-Leitlinien-Entwurf, Kapitel 1

Die AWMF entwickelt gerade eine neue „S3-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans*-Gesundheit: Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung“. Jetzt gibt es die Möglichkeit, den aktuellen Entwurf öffentlich zu kommentieren. Damit mein Kommentar nicht nur in die Tiefen des Leitlinienentwicklungsprozesses gehen, veröffentliche ich sie auch noch hier. Die Hauptüberschriften dieses Artikels entsprechen dabei den Hauptüberschriften der Leitlinie.

Unter der Kommentier-Website ist die Leitlinie nicht mehr einzusehen, hier gibt es eine Version.

Da die Leitlinie lang ist, teile ich meine Kommentare in mehrere Posts auf.

1. Einführung

1.1 Terminologie

„Menschen, deren Geschlecht nicht (bzw. nicht komplett und/oder dauerhaft) mit ihren körperlichen Merkmalen übereinstimmt, nutzen zur Selbstbeschreibung viele Begriffe: Transgender, Transidentität, Transsexualität, Transgeschlechtlichkeit oder einfach Trans*. Die Bezeichnung Trans* dient im Folgenden als Oberbegriff, der mit dem Asterisk (*) die zuvor genannten Begriffe umfassen soll.“

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff trans* von vielen Transmenschen (ein genauso umstrittener Begriff) abgelehnt wird. Der Teil des Spektrums, der sich als transsexuell bezeichnet, lehnt ihn ab, weil er für sie eine Sichtweise beschreibt, die sich ausschließlich mit dem sozialen Geschlecht (Gender) befasst, während sie ihre Thematik hauptsächlich im körperlichen Bereich (Sexus) sehen. Siehe dazu z.B. diesen Beitrag des VTSM. Andere sehen ihn als problematisch an, weil er auch Transvestiten oder Crossdresser oder geschlechtsnonkonforme Menschen einschließt, die nicht die gleichen Themen haben (siehe z.B. hier).

Julia Serano hat die Begriffsproblematik hier gut beschrieben. Leider gibt es keinen Begriff, mit dem sich alle identifizieren können. Es gibt immer wieder Versuche, Begriffe zu finden, mit denen alle zufrieden sind, was aber auch immer wieder scheitert. Aktuell scheint der Begriff TT bzw. transsexuell/transgender ganz gut zu funktionieren, oder längere Umschreibungen wie „Menschen mit geschlechtlicher Thematik“ oder „Menschen, die geschlechtliche Vielfalt leben“. Die Richtlinie muss sich natürlich nicht diese ganze Problematik zu eigen machen, sollte sie aber mindestens ansprechen.

„Darüber hinaus impliziert der Begriff Trans* nicht automatisch den Wunsch, sich mit Sexualhormonen, chirurgischen Eingriffen oder weiteren Maßnahmen (Epilation, Logopädie, etc.) behandeln zu lassen, schließt ihn allerdings auch nicht aus.“

Das ist zuerst eine löbliche Sichtweise. Es ist wichtig anzuerkennen, das nicht alle Transmenschen medizinische Maßnahmen wünschen oder aus den verschiedenen möglichen Maßnahmen nur einzelne benötigen. Andererseits weitet diese Überlegung möglicherweise auch die Zuständigkeit der Leitlinie zu weit aus. Menschen, die keine medizinischen Maßnahmen wünschen, brauchen dementsprechend keine Behandlung und somit gibt es keinen Grund, dass sich eine medizinische Leitlinie mit ihnen befasst.

„Als gemeinsamer Nenner liegt den verschiedenen Begriffen die Diskrepanz zwischen Geschlechtsidentität bzw. (empfundenem) Geschlecht bzw. (empfundener) Geschlechtszugehörigkeit und körperlichen Geschlechtsmerkmalen zugrunde, die so genannte Geschlechtsinkongruenz (GI).“

Hier wird wie in der aktuell geplanten Diagnose Gender Incongruence im ICD11 die erlebte Geschlechtidentität bzw. Geschlechtszugehörigkeit, was eher den sozialen Aspekt beschreibt (gender), den aktuell existierenden körperlichen Geschlechtsmerkmalen (sex) gegenübergestellt, was als Vergleich nicht wirklich passen kann. In der englischen Version der geplanten ICD11-Diagnose (HA70) wird die Problematik noch deutlicher:

„Gender Incongruence of Adolescence and Adulthood is characterized by a marked and persistent incongruence between an individual´s experienced gender and the assigned sex“

„Experiencend gender“ kann nicht „assigned sex“ gegenübergestellt werden, sondern nur „assigned gender“, auch wenn dieses zugewiesene soziale Geschlecht in westlichen Gesellschaften anhand des zugewiesenen körperlichen Geschlechts zugewiesen wurde. Genauso gibt es auch einen experienced sex, der nicht zum assigned sex passt. Diese Geschlechtsdysphorie wird in Trans-Kreisen oft als Körperdiskrepanz bezeichnet (z.B. hier). Da Körperdiskrepanz oft eine starke Motivation für körperliche Angleichungen (Hormone, OPs etc.) und die soziale Motivation (Passing) hier oft untergeordnet ist, ist es m.E. wichtig, dass die Leitlinie das berücksichtigt, insbesondere da der Kontakt von Mediziner_innen mit Transmenschen hauptsächlich dann entsteht, wenn diese sich körperliche Angleichungen wünschen.

1.2 Ausgangssituation

„(…) Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung von trans* Menschen und der Befürchtung von Ärzt_innen[1] und Psychotherapeut_innen vor einer Fehlentscheidung (…)“

Hier wäre interessant, wie groß die Wahrscheinlichkeit solcher Fehlentscheidungen ist, auch im Vergleich mit der Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen in anderen medizinischen Bereichen. In der Zwischenzeit gibt es auch Gesundheitssysteme, die im Trans-Bereich mit informed consent arbeiten (z.B. manche Versicherungen in Kalifornien), die Verantwortung bzgl. einer Fehlentscheidung also den Patient_innen überlassen. Hier wäre es interessant, entsprechende Erfahrungen abzugleichen.

1.3 Ziel der Leitlinie

„Die vorliegende S3-Leitlinie hat einen psychosozialen Schwerpunkt.“

Im Kontakt mit medizinischem Personal (im weitesten Sinn, also inklusive Psych*) sind die Themen der meisten Transmenschen, soweit ich es von meiner Arbeit in Trans-Gruppen beobachten kann, hauptsächlich körperliche Natur, also wie jemand an Hormone kommen kann, wer welche Operationen gut durchführt usw. Es gibt psychsoziale Themen, wie z.B. Ablehnung durch die Herkunftsfamilie, Beziehungsschwierigkeiten durch die Transition, Mobbing am Arbeitsplatz usw., die jedoch selten in Verbindung mit dem Gesundheitssystem gebracht werden, also für die Leitlinie keine große Relevanz haben sollten.

„Sie richtet sich an Ärzt_innen und Psychotherapeut_innen, die trans* Menschen sowohl psychosoziale und bei Bedarf und Indikation psychotherapeutische Hilfe anbieten als auch die Indikation für somatische Behandlungen zur Modifizierung der körperlichen Geschlechtsmerkmale (u. a. Hormonbehandlung, chirurgische Eingriffe) stellen.“

Letzteres ist in meiner Beobachtung der Hauptgrund, warum Transmenschen die Psych*-Professionen aufsuchen. Dies passt nicht so ganz zu dem oben angesprochenen „psychosozialen Schwerpunkt“, da es m.E. falsch wäre, Indikationen für körperliche Maßnahmen an psychosoziale Bedingungen zu knüpfen.

„Die evidenzbasierten Empfehlungen der S3-Leitlinie sollen den Fachkräften eine Orientierung in der Beratung, Diagnostik und Behandlung von trans* Menschen vermitteln und es damit erleichtern, die medizinische Notwendigkeit der zur Verfügung stehenden und individuell angestrebten somatischen Behandlungen zur Modifizierung der körperlichen Geschlechtsmerkmale empirisch fundiert einzuschätzen.“

Das passt aus meiner Sicht und entspricht, wie oben geschrieben, der häufigsten Motivation, warum Transmenschen medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Es ist aber im Wesentlichen keine psychosoziale Thematik.

„Die Behandelnden sollen die Behandlungssuchenden über die Risiken sowie die kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen der angestrebten Behandlung aufklären, um vollinformierte Entscheidungen der Behandlungssuchenden zu gewährleisten.

(…)

Behandelnde mit folgenden Abschlüssen sind die Zielgruppe der Leitlinie. Die Qualifikationen gelten als ausreichend, um Indikationsstellungen leitliniengerecht stellen zu können:

  • Psychologische_r Psychotherapeut_in
  • Arzt_Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
  • Arzt_Ärztin für Neurologie und Psychiatrie / Psychotherapie
  • Arzt_Ärztin für Nervenheilkunde
  • Arzt_Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
  • Arzt_Ärztin für Psychotherapeutische Medizin“

Hier sehe ich einen Widerspruch. Die angestrebte Behandlung ist üblicherweise körperlich, wie in der Leitlinie angesprochen z.B. Hormone oder OPs. Die Aufklärung über diese Maßnahmen ist wichtig, z.B. über Langzeitfolgen einer Hormonersatztherapie, die Risiken von Operationen, die Grenzen der Möglichkeiten bei der chirurgischen Modifikation von Genitalien usw. Dies sind aber Themen, die typischerweise nicht zum Wissensbestand der genannten Psych*-Professionen gehören, sondern wo stattdessen die jeweils behandelnden Ärzt_innen (Endokrinolog_innen, Chirurg_innen) Auskunft geben können.

1.4. Versorgungssituation

Trans* Menschen wird daher empfohlen, sich ein Netz sowohl informierter als auch kooperierender Gesundheitsfachkräfte entlang der eigenen Bedarfe im Zuge der Transition aber auch über die Transition hinaus aufzubauen.

Wichtig ist hier: wer baut dieses Netz auf? Weiter oben wird von universitären Spezialambulanzen oder Schwerpunktpraxen gesprochen, die die Koordination übernehmen. Das hat den Vorteil, dass die einzelnen Behandlungen besser aufeinander abgestimmt werden, und auch, dass es weniger Reibungsverluste, z.B. bei Krankenkassenbeantragungen gibt, weil die jeweiligen Stellen damit vertraut sind, was sie schreiben müssen und welche Voraussetzungen für die Genehmigung nötig sind.

Allerdings legen sich solche spezialisierten Zentren oft auf bestimmte Trans-Wege und -Narrative fest. Menschen, die diesen Konzepten nicht entsprechen haben, dann Schwierigkeiten ihre nötige Behandlungen zu bekommen (wenn sie z.B. unerwartet über ihr Trans-Sein berichten) oder andere Wege zu gehen (z.B. manche nicht-binäre Menschen, die eine Mastektomie, aber kein Testosteron wollen). In einem weniger geordneten System haben solche Menschen eine größere Chance, doch noch ihre notwendigen Behandlungen zu bekommen.

Trans-Organisationen leisten oft einen großen Beitrag zum Aufbau eines solchen Netzes, wie im Zitat angegeben, insbesondere durch das Bereit- und Aktuell-Halten von Listen von Ärzt_innen und anderen Behandler_innen. Allerdings passiert dies alles ehrenamtlich, die Ressourcen sind deswegen begrenzt und mehr wäre wünschenswert.

1.5. Diagnosen

Siehe hierzu meinen Kommentar zu 1.1. Sowohl im DSM-5 als auch im ICD-11 fehlt das Konzept des „experienced sex“, oder wie Julia Serano es in Whipping Girl beschreibt, der „subconscious sex“ (siehe auch hier), oder wie es deutschsprachige Transsexuellen-Organisationen mit „Körperdiskrepanz“ beschreiben (z.B. hier). Diese Erfahrung ist oft mindestens genauso wichtig wiie „experienced gender“, und die medizinischen Angleichungsmaßnahmen führen aus dem Grund, dass sie den Widerspruch zwischen körperlichen Selbstbild und existierendem Körper reduzieren, zu einer großen Erleichterung des Befindens, ganz unabhängig davon, wie die Situation der sozialen Rolle ist.

Viele Transpersonen (ich auch) beschreiben ihre Trans-Erfahrung zuallererst als das Erleben eines unpassenden Körpers, der Wunsch nach einer anderen sozialen Geschlechtseinordnung ergibt sich erst daraus.

1.6. Epidemiologie

Hier ist wichtig zu bemerken, dass nur ein Teil der in solchen Studien identifizierten Menschen für eine Leitlinie relevant sind. Für Menschen mit einer Geschlechtsidentität, die vom Zuweisungsgeschlecht abweicht, die keine körperlichen Angleichungen benötigen und auch keine psychotherapeutische Begleitung, ist keine Leitlinie nötig.

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